Die Zukunft des Buches – Teil 1: Wettbewerbs­vorteile

Bald ist wieder Buchmesse in Leipzig. Wie fast jedes Jahr gingen die Buchumsätze zurück, aber die Netflix-Nutzerzahlen hoch. Kulturpessimismus grassiert im Feuilleton. Und erneut stellt sich die Frage: Was wird aus dem Buch? Der folgende Beitrag bietet eine betriebswirtschaftliche Perspektive zur Zukunft des Buches.

Scheinbarer Niedergang der Buchbranche

Die Buchbranche durchlebt schwierige Zeiten: Die Umsätze gehen regelmäßig zurück und nur der Onlinehandel wächst, wie der Börsenverein des Deutschen Buchhandels kürzlich meldete. Die ersten Branchengrößen sind insolvent, wie der Zwischenhändler KNV. Nur eines scheint stetig zu wachsen: das Streaming von Filmen. Zerstört Netflix also das das Buch, wie die FAZ rhetorisch fragt?

Serie zur Zukunft des Buches, anlässlich der Leipziger Buchmesse:
– Die Zukunft des Buches – Teil 1: Wettbewerbsvorteile (dieser Beitrag)
– Die Zukunft des Buches – Teil 2: Lösungsansätze (nächste Woche)
Letztes Jahr: Thesen zur Zukunft des Buchhandels

Gefahr der Kurzsichtigkeit

Betrachtet man die Entwicklungen des Buchmarktes aus betriebswirtschaftlicher Sicht, fühlt man sich an Ted Levitts wegweisende Warnung vor Kurzsichtigkeit erinnert (Marketing Myopia, 1960). Darin warnt er Betriebe davor, das eigene Geschäftsmodell zu eng zu fassen und so Veränderungen von Konsumentenbedürfnissen und das Entstehen neuer Konkurrenten zu übersehen. Sein Beispiel sind die U.S.-Eisenbahnmagnaten, welche in ihrer Konzentration auf die Schiene („We’re a railroad company!“) das zugrunde liegende Bedürfnis (Transport, nicht notwendig Zugtransport) und die neue Konkurrenz Auto übersahen und in der Bedeutungslosigkeit verschwanden. Aber auch heutige Beispiele (z.B. Kodak – Digitalfotografie, Nokia – Smartphone) liegen nahe.

Einer solchen Kurzsichtigkeit könnte auch die Buchbranche unterliegen. Das Buch wird als Kulturinstitution begriffen, welche als solche schützens- und erhaltenswert ist. Der Wettbewerb erfolgt unter den Verlagen, um die besten Autoren und Inhalte. Amazon ist Feind des Bucheinzelhandels. Sich wandelnde Bedürfnisse und neue Konkurrenten sind außen vor.

Die kulturelle Relevanz des Buches ist unbestritten. Aber hilft das dem Buchverkauf? Nein, denn Verkaufserfolg beruht auf der Schaffung von Mehrwerten an Konsumenten durch die Deckung von Bedürfnissen. Um zu vermeiden, dass das Buch musealisiert oder vergrillt wird, wie Vladimir Sorokin unlängst dystopisch mutmaßte, müssen Bücher aus betriebswirtschaftlicher Sicht also Mehrwerte schaffen. Und diese Schaffung von Mehrwert muss nicht nur gegenüber anderen Verlagen und Händlern erfolgen, sondern allgemeiner. Nicht von Buch zu Buch müssen Mehrwerte entstehen, sondern im vergleich zu anderen Medien.

Bedürfnisse, Mehrwert und Wettbewerbsvorteile

Um den Mehrwert von Büchern zu verstehen, müssen wir zuerst über die Bedürfnisse der Konsumenten nachdenken. Durch die Erfüllung von Bedürfnissen schafft ein Angebot (hier: das Buch) Mehrwert gegenüber Konsumenten. Erfüllte ein Angebot die Bedürfnisse merklich besser als die Konkurrenz, sprechen wir von Wettbewerbsvorteilen. Angebot, Konkurrenz und Konsumenten bilden ein sogenanntes strategisches Dreieck, wie in Abb. 1 dargestellt. Daraus wird deutlich, dass Mehrwerte nicht absolut zu sehen sind, sondern immer relativ zum Konkurrenzangebot.

Zukunft des Buchhandels: Kundenbedürfnisse, Mehrwert und Wettbewerbsvorteile
Abb 1: Kundenbedürfnisse, Mehrwert und Wettbewerbsvorteile im strategischen Dreieck

Was sind also die Konsumentenbedürfnisse, welche das Buch erfüllen kann? Als Beispiele können uns hier folgende offensichtliche Bedürfnisse dienen: Unterhaltung, Entspannung, Gesprächsstoff, Flexibilität, Individualisierung, Prestige und vielleicht sogar Bildung.

Welches Medium ist der Hauptkonkurrent des Buches?

Daraus erwachsen zwei Fragen: erstens, welches Medium ist der Hauptkonkurrent des Buches? Zweitens, bestehen hier Wettbewerbsvorteile? Wenn das Buch dem Untergang geweiht wäre, müsste es in den letzten Jahren Wettbewerbsvorteile gegenüber der hier noch zu definierenden Konkurrenz verloren haben.

  • In den Bereichen Unterhaltung, Entspannung und Gesprächsstoff konkurriert das Buch mit allen anderen Medien und Freizeitbeschäftigungen. Seit der Existenz von Radio, Kino und TV können sich Menschen beispielsweise anders also mit einem Buch unterhalten. Die Fernsehquoten waren aber schon in den 1990er Jahren hoch. Nach einem harten Büroalltag schalteten schon damals viele mit Filmen und Serien ab. Und über den Satzbau der letzte Büchner-Preis-Gewinnerin hat noch nie jemand in der Kantine gesprochen. Hier gibt es also nichts Neues aus Sicht des Buches: weder eine Verschlechterung noch eine Verbesserung.
  • Besonders bei Flexibilität und Individualisierung bekommt das Buch aber zunehmend durch das sogenannte Streaming Konkurrenz. Ein Mehrwert des Buches ist, dass man lesen kann, wann, wo und was man will. Gerade das liefern Netflix & Co aber auch. Hier unterscheiden sich die „nichtlinearen“ (Buch, Streaming) von den „linearen“ Medien (Fernsehen, Radio) wo man nur konsumieren konnte, was gerade angeboten wurde. Bei Flexibilität und Individualisierung hat das Buch also kein Alleinstellungsmerkmal mehr.
  • Bei Bedürfnissen wie Prestige und Bildung hat das Buch noch Wettbewerbsvorteile. Zwar vermitteln auch andere Medien praktisches Wissen (etwa Anleitungen bei Youtube), bei Fachthemen ist das Buch aber unerreicht. Auch zur Außendarstellung vor Besuchern dürfte sich die in Leinen gebundene Krieg-und-Frieden-Ausgabe (im Schuber!) besser eignen als Stolz und Vorurteil in der Netflix-Playlist.

Wettbewerbsvorteil teils eingebüßt

Zusammenfassen lässt sich also, dass das Buch seine Wettbewerbsvorteile teils eingebüßt hat. Besonders bei den Bedürfnissen nach flexibler und individueller Unterhaltung stellt Streaming eine starke Konkurrenz dar. Argumente wie „die heutige gestresste Generation entspannt lieber bei einer Serie“ erklären den Niedergang hingegen nicht, da derartiges Konsumverhalten eigentlich seit der Massenverbreitung des Fernsehers üblich war.

Führen wir Bedürfnisse und Konkurrenzangebote zusammen, zeigt sich in der Tat im vieldiskutierten Streaming ein wichtiger neuer Konkurrent des Buches. Fraglich bleibt, ob sich die Lage für das Buch weiter verschlechtert. Hier ist häufig von der „Generation Netflix“ die Rede (z.B. in der Berliner Zeitung), die zu mehr Flexibilität und Individualismus neige und deshalb zum Medienstreaming greife.

Zukunft des Buchhandels - Beitragsbild

Hierzu lassen sich zwei Hypothesen wagen. Erstens, die „Nichtlinearisierung“ und Individualisierung ist nicht so stark, wie gedacht. Gerade das sogenannten „bingen“ zeigt doch, dass Menschen sich gern langfristig mit etwas befassen und auf etwas hinfiebern – auch, weil es einfacher ist, als sich immer neue Inhalte zu suchen. Auch der Erfolg von Buchserien von der Krimi- bis zur Harry-Potter-Reihe spiegelt dies. Zweitens, Kulturpessimismus und ein Abgesang auf die ach so lesefaule Jugend hilft niemandem. Beispiel aus der klassischen Musik, wie z.B. die Streaming-Angebote der Berliner Philharmoniker oder des HR-Sinfonieorchesters, haben gezeigt, dass kulturelle Inhalte durch eine zeitgemäße Darbietung durchaus ein jüngeres und zahlreiches Publikum erreichen können.

Ausblick zur Zukunft des Buches: „Vernetflixung“ oder andere Lösungsansätze

Bei der Beurteilung der Zukunft des Buches kommen Konsumentenbedürfnissen, Mehrwert und Wettbewerbsvorteilen also eine entscheidende Bedeutung zu. Der Blogbeitrag der nächsten Woche zeigt hierzu vier, vielleicht etwas ungewöhnliche, Lösungsvorschläge auf. Hoffentlich können diese helfen, eine „Vernetflixung“ unseres Medienkonsums zu verringern.


Dieser Beitrag ist Teil einer Serie anlässlich der anstehenden Leipziger Buchmesse. Nächste Woche erscheint der Beitrag „Zukunft des Buches – Teil 2: Lösungsansätze“. Bereits letztes Jahr erschien der Beitrag „Thesen zur Zukunft des Buchhandels“, welcher sich mehr mit der Vertriebsseite befasste. Alle Beiträge sind Außenansichten eines Laien des Literaturbetriebes. Sie erheben daher auch nicht den Anspruch, die Zukunft des Buches oder Wege zu deren Sicherung zu kennen. Die Beiträge sollen vielmehr zur Diskussion anregen.