Warum geht der Onlinehandel offline?

Warum eröffnen immer mehr Onlinehändler, von Amazon bis Zalando, stationäre Läden? Anders formuliert: warum geht der Onlinehandel offline? Um dem maladen Offlinehandel den Todesstoß zu geben, wie einige Kommentatoren vermuten? Eher nicht. Dieser Post fasst fünf Beweggründe zusammen.

Als Amazon die ersten Buchläden eröffnete und Zalando vor Kurzem ankündigte, zusätzliche Outlets zu eröffnen, war die Aufregung in der Presse so schnell wie fatalistisch. Amazon „verleib[e] sich traditionelle Branchen ein und spuckt sie unter seinem Label neu aus.“ (Spiegel, 05.01.2018). Oder man frage sich, ob Onlinehändler wie Zalando „erst den lokalen Einzelhandel kaputt [machten], und dann seinen Platz [einnähmen]“ (mdr Info, 16.01.2018, „Online-Riesen in der Stadt“). Doch steht uns eine Filialisierung der „Pure Player“ bevor? Die folgenden fünf Gründe sprechen für eine stärkere Offline-Präsenz des Onlinhandels. So viel vorab: ein der Wunsch nach Verdrängung stationärer Händler ist nicht dabei.

Warum geht der Onlinehandel offline?

Gründe für den Onlinehandel offline aktiv zu werden:

  1. Gewinnung neuer Segmente
  2. Alternative zu hohen Kundengewinnungskosten im Onlinehandel
  3. Schaffung zusätzliche Kontaktpunkte – der Plakatwandeffekt
  4. Gewinnung von Kundeninformationen
  5. Zusätzliche Wertschöpfung: Quer- und Hoch-Verkäufe

(1) Gewinnung neuer Segmente

Obwohl mittlerweile breite Teile der Bevölkerung online einkaufen, gibt es immer noch bestimmte Kundensegmente, die dies weniger häufig tun. So ist es nicht überraschend, dass weniger ältere Konsumentinnen und Konsumenten E-Commerce nutzen (85% der 25-44-Jährigen gegenüber 47% der Über-65-Jährigen, Statistisches Bundesamt). Diese Unterschiede dürften sich zwar über Zeit ausgleichen, heute bestehen sie aber noch und stellen einen Grund für Onlinehändler dar, Waren stationär anzubieten.

Für bestimmte Produktgruppen hingegen zögert bisher die breite Masse der Konsumenten, Produkte online zu kaufen. Besonders Produkte, bei denen ein physischer Kontakt wichtig ist, die Lieferung und eventuelle Rücksendung aber nicht als komfortabel wahrgenommen werden, werden derzeit noch selten online gekauft. So liegt der Onlineanteil etwa von Möbeln (10,7%) oder Heimwerkerbedarf (4,6%) deutlich unter Referenzkategorien, wie Mode (23,5%, Handelsverband Deutschland). Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass die Lieferung und Rücksendung als zu schwierig angesehen werden (z.B. Terminvereinbarumg mit einer Möbelspedition) um einfach zum Test zu bestellen. Gleichzeitig könnte das Bedürfnis nach direkter Verfügbarkeit (z.B. für die schnelle Reparatur am Wochenende) im Widerspruch zu etwaigen Lieferfristen stehen. Zwar dürfte sehr onlineaffinen Nutzergruppen dies egal sein, aber gerade schwankende Kundensegmente schätzen die Vorteile eines Tests oder direkten Kaufs im stationären Handel. Onlinehändler umgehen mit stationären Läden dieses Problem, indem sie Interessierten mehrere Kanäle anbieten und diese sich in dem Kanal informieren, der zu den jeweiligen Bedürfnissen (z.B. physischer Test vs. Vergleich verschiedener Angebote) am besten passt.

Doch selbst für Produktkategorien, die bereits stark online gehandelt werden, dürften die Wachstumsmöglichkeiten im reinen Onlinegeschäft begrenzt sein. Man könnte argumentieren, dass jede Produktkategorie einen natürlichen Anteil reinen Onlinegeschäfts hat, der bei einigen Kategorien höher (z.B., Bücher, Elektronikartikel oder Kleidung) und bei anderen niedriger liegt (z.B. Möbel, hochwertiger Schmuck). In jeder dieser Produktkategorien dürften reine Onlinevertriebsmodelle aber an Wachstumsgrenzen stoßen – nur dass diese bei einigen Kategorien früher einsetzen, als bei anderen. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von steigenden marginalen Grenzkosten der Kundengewinnung. Das heißt, dass auch in Kategorien mit einem bereits hohen Onlineanteil das Potential derjenigen Kundensegmente, die leicht zum Onlinekauf zu bewegen sind, irgendwann ausgeschöpft ist. Die Gewinnung zusätzlicher Kundengruppen wird dann kostspieliger, was wiederum die Eröffnung von Filialen als Alternative zur Kundengewinnung attraktiver macht.

(2) Hohe Kundengewinnungskosten im Onlinehandel

Das Kundengewinnung im Onlinehandel mittlerweile sehr teuer ist, stellt keine Neuigkeit mehr dar. Allein die Click-Kosten im Suchmaschinenmarketing von Google belaufen sich je nach Branche auf 0,20 bis 1,00€ (intelliAd) – wobei ein Click noch keinen Kunden gewinnt. Nimmt man Konversionsraten von 3% an (siehe hier für eine Übersicht verschiedener Konversionsraten), kostet ein Neukunde bei Click-Kosten von 0,50€ fast 17€ – ohne, dass andere Werbeausgaben mitgerechnet wären. Dabei sind auch deutlich höhere Click-Kosten möglich, etwa bei umkämpften Suchbegriffen (z.B. „Kleidung“) oder in Onlinebranchen mit hohem Wettbewerbsdruck (z.B. Matratzen), wie veröffentlichte Click-Kosten von Onlinehändlern zeigen (hier).

Deshalb kann es unter Umständen für Onlinehändler günstiger sein, das traditionelle Wachstumsmodell des stationären Einzelhandels („mehr Läden = mehr Umsatz“) zu kopieren. Zwar fallen Miet-, Personal- und Investitionskosten an, aber diese erscheinen im Vergleich zum teuren Onlinemarketing durchaus tragbar, wie eine Modellrechnung der Online Marketing Rockstars zeigt (hier).

(3) Zusätzliche Kontaktpunkte – der Plakatwandeffekt

Im Jargon des Onlinemarketings spricht man gern von sogenannten „Touchpoints,“ d.h. Kontaktpunkten mit Konsumenten. Die Logik ist einfach: je häufiger potentielle Käuferinnen und Käufer mit meiner Marke in Kontakt kommen, desto wahrscheinlicher erinnern diese sich im entscheidenden Zeitpunkt an die Marke des Händlers. Hierbei sind Kontakte im Laden ausschlaggebender als Werbung oder mündliche Informationen, da erstere intensiver wirken (siehe folgender Forschungsartikel).

Im Handel spricht man hier auch vom „Plakatwandeffekt“: die Läden funktionieren wie eine Plakatwand, die in der Innenstadt Werbung für den Onlinehändler machen. Dies wird durch den ehemaligen Online-Pure-Player „Mr Spex“ ganz explizit als Grund für die Eröffnung zahlreicher Filialen genannt: diese Eröffnungen „stärk[t]en die Markenbekanntheit von Mister Spex“ (hier).

(4) Bessere und andere Informationen über Kunden

Ein weiterer wichtiger Grund für die Eröffnung von stationären Läden kann die Gewinnung von Kundeninformationen sein. Zwar liegen online zahlreiche quantitative, aus Cookies und Kaufhistorie hervorgehende, Informationen zum Kundenverhalten vor. Der stationäre Handel kann aber andere Arten von Informationen liefern. Moderne Algorithmen können zwar mit nur wenigen Datenpunkten vorhersagen, was potentielle Käufer wünschen, aber Händler erfahren dabei wenig darüber, was an ihrem derzeitigen Produktangebot gerade ge- oder missfällt. Im Laden können hingegen durch die Interaktion des Verkaufspersonals mit den Kunden qualitative Informationen gesammelt werden, vergleichbar mit Fokusgruppeninterviews in der Marktforschung. Gerade bei der Weiterentwicklung des Produktangebots kann ein Wissen um die nicht erfüllten Bedürfnisse möglicher Käuferinnen und Käufer für Händler besonders interessant sein.

(5) Wertschöpfung: Quer- und Hochverkäufe und Loyalität

Ein letzter Faktor in der Entscheidung für stationären Handel könnte die Möglichkeit zur Erzielung von Quer- (d.h., Verkauf eines weiteren, komplementären Produktes, wie etwa einen Teppich zur neuen Couch) und Hochverkäufen (auch „Upselling“ genannt, d.h. Verkauf einer höherwertigen Alternative) sein. Zwar verfügt auch der Onlinehandel über Werkzeuge zur Vernetzung des Produktangebots (z.B. Produktempfehlungen), allerdings sind die Möglichkeiten im stationären Handel umfangreicher. Besonders beim Verkauf höherwertiger Produkte dürfte der Einfluss des Verkaufspersonals den eines „andere Konsumenten fanden auch interessant“ übersteigen. Sollte das Warenwirtschaftssystem der stationären Läden mit dem des Onlineshops verknüpft sein, könnten stationäre Ableger trotz kleiner Verkaufsräume prinzipiell ein großes Sortiment querverkaufen.

Gleichzeitige könnte durch den persönlichen Kontakt die Kundenbindung erhöht, und somit die Loyalität verbessert werden. So interpretieren Kommentatoren die Eröffnung von Amazon Buchläden weniger als Angriff auf den stationären Handel, als vielmehr als Mittel zur Bindung bestehender Prime-Kunden (BusinessInsider). Allerdings gehen mit persönlicher Interaktion im Laden auch Risiken einher, etwa durch schlechte Dienstleistungserbringung der Verkäufer.

Fazit: Offlinegeschäft von Online-„Pure Playern“ wächst weiter

Die Vielzahl der Gründe macht es wahrscheinlich, dass mehr Onlinehändler stationäre Läden eröffnen werden. Zwar geht damit Investitionsbedarf (z.B., Ladenausbau), Risiken (z.B. durch langfristige Mietverträge) und höhere Komplexität (z.B. durch andere Anforderungen des Offlinegeschäfts) einher. Diese Faktoren scheinen aber für viele Onlinehändler weniger stark zu wiegen, als die Möglichkeit, zusätzliche Umsätze zu erzielen. Das aus dem stationären Handel bekannte Wachstum durch Ladeneröffnungen könnte es so in den Onlinehandel schaffen – neben der Integration der Verkaufskanäle durch den Offlinehandel (siehe Beitrag hier) ein weiterer Beweis dafür, dass die Verkaufskanäle und ihre Prinzipien immer weiter zusammenwachsen.

Auch im Onlinehandel reift die Erkenntnis, dass der „Point of Sale“ eben mehr ist, als ein reiner Absatzkanal. Im Gegensatz zum reinen Webshop können stationäre Läden als Plakaktwände und Markenbotschafter dienen, als Punkt der Informationsgewinnung, Retouren- und Serviceabwicklung oder Finanzierungsverhandlung – kurz, als viel mehr als nur reiner Transaktionspunkt. Diese erweiterte Sichtweise auf das Ladengeschäft ist unter Offlinehändlern schon lange verbreitet. Die Filialisierung des Onlinehandels ist somit ein weiteres Beispiel für die These, dass langfristig nicht Vertriebsmodell gewinnt, sondern eine Mischung aus beiden Welten die Norm wird.

Letztlich sollte man aber auch das Ausmaß des Offlinegeschäfts für ehemalige „Pure Player“ im Auge behalten. Obwohl zahlreiche Onlinehändler offline aktiv sind und einige bereits 50% des Umsatzes stationär erzeugen, sind die Läden für andere (wie etwas für Zalando, das nur Outlets betreibt) ein Randgeschäft. Man kann vermuten, dass sich der Anteil des stationären Handels am Umsatz der „Pure Player“ erhöht, zu neuen Filialisten werden diese aber wahrscheinlich im Regelfall nicht.



Dieser Artikel ist Teil einer Serie, die sich mit dem Zusammenwachsen von On- und Offlinehandel befasst. Dieser Artikel erörtert warum der Onlinehandel offline geht. Ein vorheriger Beitrage diskutiert, wie stationäre Händler auf den Onlinehandel reagieren und so auch zu Onlinehändlern werden Reaktionen des stationären Handels auf E-Commerce. Die These einer fortschreitenden Integration von On- und Offlinehandel diskutiert der Beitrag „Omni-Channel im deutschen Handel“.