Was sind Risiken von Attributions­modellen?

Attributionsmodelle helfen uns, zu verstehen, welchen Anteil digitale Werbekanäle an den Besuchen oder Umsätzen einer Webseite haben. Dies ist ein klarer Vorteil gegenüber der analogen Welt: dort bleibt unklar, wie viel und, geschweige denn welche Besucher durch Plakat X an Straße Y auf meinen Laden aufmerksam wurden. Doch wie so häufig gehen Vor- mit Nachteilen einher. Dieser Beitrag schließt die Serie zu Attributionsmodellen deshalb mit einer Erläuterung von Risiken von Attributionsmodellen ab.

Auch zum Thema Attributionsmodelle:
Teil 1: Was sind Attributionsmodelle?
Teil 2: Wie funktionieren Attributionsmodelle?
Teil 3 (dieser Beitrag): Was sind Risiken von Attributionsmodellen?

Vorab: Vorteile von Attributionsmodellen

Bevor wir uns den Risiken von Attributionsmodellen zuwenden, möchte ich aber deren Vorteile stichpunktartig zusammenfassen. Damit soll der Eindruck vermieden werden, dass Attributionsmodelle negativ zu beurteilen sind. Ganz im Gegenteil: sie ermöglichen uns, einen Überblick über die Vielzahl von Kaufprozessen von Kunden und die damit verbundenen Marketingkanäle zu erlangen. Konkret haben Attributionsmodelle folgende Vorteile:

  • Erfassung des (analog) Unerfassbaren: Berechnung vom Umsatzanteil eines Werbekanals, was wiederum zur Effizienzmessung (z.B.: Marketingkostenquote pro Werbekanal) genutzt werden kann
  • Verringerung der Komplexität: Reduzierung einer unüberschaubaren Vielzahl verschiedener Kaufprozesse auf wenige Kennzahlen
  • Objektivierung der Effizienzmessung: Vorhandensein transparenter und allgemein bekannter Allokationsregeln (z.B.: 40-20-40) zwischen den Werbekanälen
  • Steigerung der Flexibilität: Anpassung an die eigenen Bedürfnisse (z.B. „Lookback Period“ für verschiedene Produkttypen)
  • Verkürzung der Beobachtungszeiträume: Aufteilung der Besuche und Umsätze kann für kurze Zeiträume erfolgen (z.B. täglich)

Zusammenfassung: Risiken von Attributionsmodellen

Neben den Vorteilen verursachen Attributionsmodelle aber auch Risiken, die im Folgenden ausführlicher diskutiert werden:

  1. Verengter Horizont durch übertriebenes Vertrauen in eine Scheinrealität
  2. Aufwendung von Ressourcen zur Verbesserung von etwas Unverbesserbarem
  3. Vergleiche, trotz mangelnder Vergleichbarkeit zwischen Unternehmen
  4. Kleinteilige Optimierung statt langfristiger Strategie

Risiko 1: Verengter Horizont durch übertriebenes Vertrauen in eine Scheinrealität

Die zahlreichen Vorteile von Attributionsmodellen verursachen auch einen gewichtigen Nachteil, denn Attributionsmodelle erzeugen eine Scheinrealität. Die Vereinfachungslogik des gewählten Attributionsmodells erlaubt es, die Vielzahl der Kaufprozesse und die darin involvierten Werbekanäle in wenigen Kenngrößen zu vergleichen. So sehen die Manager von Werbekanälen am Ende einer Periode, wie die eigene Marketingkostenquote (d.h. die Marketingkosten pro Umsatz) sich von den Quoten anderen Werbekanälen unterscheidet. Dabei geht leicht unter, dass keineswegs der tatsächliche Beitrag eines Werbekanals am Umsatz eines Kaufprozesses gemessen wird, sondern nur eine bestimmte Rechenlogik auf den Kaufprozess angewandt wird.

Die Vereinfachung der Attributionsmodelle muss an der Realität vorbei gehen, um vereinfachen zu können. Werden beispielsweise die Umsätze positionsbasiert aufgeteilt (40-20-40, siehe letzter Beitrag), so erhält der Werbekanal des Erstkontaktes 40% des in diesem Kaufprozess entstandenen Umsatzes. Ob der erste gesehene Werbekanal (z.B. ein Banner) tatsächlich zu 40% für den Kauf verantwortlich war, bleibt mehr als fraglich. Da wir Konsumentinnen und Konsumenten während des Kaufprozesses nicht in den Kopf schauen können, lässt sich dieses Problem aber nicht lösen. Selbst wenn wir in einem spezifischen Kaufprozess von einem Beitrag von 40% ausgehen könnten, so ist der Beitrag sicher bei anderen Kaufprozessen verschieden. Zur Vereinfachung müssen aber alle Kaufprozesse gleich behandelt werden.

Notwendige Irrealität der Attributionsmodelle

Gleichzeitig gehen die Annahmen der Attributionsmodelle zwangsweise an der Realität vorbei: zwar ist es realistisch anzunehmen, dass ein Großteil der Nutzer Kaufprozesse innerhalb einer Vergleichsperiode („Lookback Period“) beendet, aber ein Teil braucht sicher länger – diese Kontaktpunkte werden ausgeblendet. Zwar löschen nur wenige Nutzer regelmäßig ihre Cookies (und beginnen damit für Google Analytics, das zur Attribution nötig Werkzeug, eine neuen Kaufprozess), aber ein Teil der Nutzerdaten geht stets verloren. Zwar ist die Annahme logisch, dass eine bestimmte Mindestbesuchsdauer nötig ist, um eine Webseite zu betrachten und sich so als Kontaktpunkt zu qualifizieren. Aber wer kann sicherstellen, dass dieser Vorgang nicht auch schneller erfolgen kann, oder dass länger andauernde Besucher nicht durch andere Aktivitäten abgelenkt werden.

Attributionsmodelle sind daher kein perfektes Abbild der Realität, sondern ein Werkzeug, um deren Komplexität zu verstehen. Keine Karte des U-Bahnnetzes einer Stadt ist topographisch korrekt – aber die imperfekte Karte hilft uns trotzdem, ans Ziel zu gelangen.

Beitrag: Risiken von Attributionsmodellen

Da Attributionsmodelle aber hochfrequente und sehr genaue Daten ausgeben können, die zur Berechnung von ebenso detaillierten Kennzahlen dienen (z.B. Marketingkostenquote von 14,1952% am Dienstag und 13,8925% am Mittwoch), wirkt es so, als seine die Ergebnisse der Attribution tatsächlich „exakt“ berechnet und bis zur letzten Nachkommastelle korrekt. Dieses übertriebene Vertrauen in eine Scheinrealität ist irreführend. Viele Marketingmanager befassen sich aber nicht mit der Attribution selbst, sondern arbeiten nur mit deren Ergebnissen. Daher ist es verständlich, dass die Ergebnisse der Attribution als Realität wahrgenommen werden. Doch entsteht dadurch das Risiko des Erblindens für Erklärungen, Möglichkeiten und Risiken außerhalb der eigenen Scheinrealität (vielleicht liegt der geringe Erfolg eines Werbekanals nicht an dessen Erfolglosigkeit, sondern v.a. am Attributionsmodell). Mehr noch, Marketingmanager haben eigentlich keinen Anreiz, außerhalb der Grenzen der Scheinrealität ihres Unternehmens zu denken – denn diese Realität bestimmt auch die unternehmensinterne Wahrnehmung ihrer Leistung. Kurz: der Erklärungshorizont verengt sich.

Risiko 2: Aufwendung von Ressourcen zur Verbesserung von etwas Unverbesserbarem

Selbst wenn Marketingmanager erkennen, dass die Ergebnisse der Attribution auf den von ihnen getroffenen Entscheidungen beruhen, so versuchen sie teils doch, diese zumindest näher an die Realität zu führen. Prinzipiell ist dies natürlich nicht falsch und sogar zu begrüßen. Nach einer grundlegenden Einstellung des Attributionsmodells eines Unternehmens (z.B. dem Ersetzen einer zu simplistischen Allokationslogik), die mit wenigen Clicks erledigt sein sollte, erscheint eine weitere Verbesserung aber als Verschwendung von Ressourcen. Attributionsmodelle sind notwendigerweise ungenau – nur dadurch wird die Vereinfachung ermöglicht. Der Versuch, mit großangelegten Marketingprojekten das Attributionsmodell weiter zu verbessern, erscheint wie der Versuch, den Teufel mit dem Belzebub zu vertreiben. Die Scheinrealität wird scheinbar noch genauer.

Zwar kann und sollte die heutige Attributionslogik in Zukunft durch realitätsnähere Techniken ersetzt werden (die z.B. die Aufteilungslogik nach einzelnem Kaufprozess ermöglichen). Das bestehende System weiter kleinteilig zu verbessern, erscheint aber wie eine Verschwendung von Ressourcen, die anderweitig besser eingesetzt werden können.

Risiko 3: Vergleiche, trotz mangelnder Vergleichbarkeit

Eng mit dieser (eventuell sogar unternehmensintern „optimierten“) Scheinrealität ist auch ein weiteres Problem verbunden: die mangelnde Vergleichbarkeit von Kennzahlen zwischen verschiedenen Unternehmen. Die Flexibilität der Attributionsmodelle (Modell, Vergleichsperiode, Korrekturfaktoren, etc.) stellt zwar einerseits einen Vorteil dar, verhindert aber gleichzeitig den Vergleich der Ergebnisse der Attribution zwischen Unternehmen (mit unterschiedlichen Attributionsmodellen). Dennoch ist zu erwarten, dass eben genau dieser Vergleich erfolgt, wenn Gutachter oder Gesellschafter einen genaueren Blick auf die Effizienz einzelner Marketingkanäle werfen. Denn wieder lädt die Genauigkeit der Ergebnisse (Unternehmen A mit 12.2% und Unternehmen B mit 20.1% für Kanal X) zu Vergleichen ein.

Wie stark dieser Vergleich hinkt, hängt sicher von der Unterschiedlichkeit der Modelle ab. Besonders unterschiedliche Allokationslogiken dürften zu Verwerfungen an den Rändern des Kaufprozesses führen: wo ein „Last Click“-Modell frühe Kontakte ignoriert, werden diese in einem „40-20-40“-Modell durchaus gewichtig berücksichtigt. Besonders Kanäle, die früh oder spät im Kaufprozess auftauchen, sind so schwer vergleichbar. Zum Beispiel werden Banner oft eingesetzt, um Aufmerksamkeit zu erzeugen – sie stehen deshalb eher am Beginn eines Kaufprozesses und werden bei einigen Attributionsmodellen daher häufiger übergangen. Würde nun die Marketingeffizienz dieses Werbekanals zwischen Unternehmen mit unterschiedlichen Modellen verglichen, läge der Schluss nahe, das Budget in einem der Unternehmen mangels Effizienz zu reduzieren. Dieser Unterschied beruht aber möglicherweise nur auf der Wahl des Attributionsmodells.

Risiko 4: Kleinteilige Optimierung statt langfristiger Strategie

Die scheinbare Genauigkeit der Attribution verursacht ein weiteres Problem: den übertriebenen Fokus auf kleinteilige Optimierung. Da Effizienzgrößen hochfrequent und scheingenau ermittelt werden können, liegt es nahe zu versuchen, die Effizienz zu steigern. Maßnahmen können innerhalb eines Werbekanals getroffen werden (z.B. Umstellung der Bildsprache von Bannern), oder die Verbesserung kann zwischen Kanälen erfolgen (z.B. eine Umschichtung der Ausgaben).

Zwar ist eine Optimierung innerhalb der Realität des Attributionsmodells sinnvoll, sie verursacht aber eine Fokussierung auf kleinteilige Optimierung, weg von langfristiger strategischer Ausrichtung. Dies betrifft vor allem die Umschichtung von Ausgaben zwischen den Kanälen. Die Abwesenheit von genauen Kennzahlen zu Marketingeffizienz einzelner Werbekanäle in der analogen Welt hatte so auch ihr Gutes, da langfristige Entscheidungen zugunsten oder zulasten bestimmter Kanäle getroffen werden mussten. Unternehmen sollten nicht versuchen, mit Hundertschaften von Werbekanaloptimierern inkrementelle Verbesserungen à la „SEA-Keyword X funktioniert in Postleitzahl Y besonders gut morgens um 11 Uhr“ zu erreichen. Genauso falsch sind datengetriebene Kurzschlussreaktionen wie „Letzte Woche lief SEA überhaupt nicht, die Effizienz war grauenvoll – nächste Woche setzen wir das Budget auf 0.“ Wichtiger ist eine grundlegende Ausrichtung auf bestimmte, zur Zielgruppe passende Werbeformate, die dann nur noch in einem Band angepasst werden.

Credo: Attributionsmodelle als bestes System, das wir haben

In diesem Lichte könnte man auch der Entscheidung von Zalando, 250 Mitarbeiter im Marketing zu entlassen, etwas Positives abgewinnen: Zwar begründet die Unternehmensführung den Schritt mit einem Wechsel hin zu mehr Entwicklern, die Algorithmen erarbeiten sollen, um noch datengebtriebener die Werbekanäle zu steuern. Dies deutet auf eine weitere Optimierung innerhalb der Scheinrealität hin. Ein technische Optimierung bietet allerdings zwei Vorteile: Algorithmen bewegen sich, erstens, innerhalb bestimmter Optimierungsbereiche, deren Festlegung langfristiger erfolgt, was wiederum einer strategischeren Herangehensweise bedarf. Zweitens werden für die kleinteilige Optimierung dann wenigstens keine Ressourcen mehr aufgewendet, die anderweitig mehr Wert schaffen könnten.

Attributionsmodelle haben zahlreiche Vorteile und geben uns eine Transparenz über die Verbesserungsmöglichkeit von digitalen Marketingkanälen an die Hand, die in der analogen Welt ungekannt war. Gleichzeitig sollten wir uns aber der Risiken von Attributionsmodellen bewusst sein, die vor allem aus deren Vorzügen erwachsen. Denn mit dem Bewusstsein der Grenzen von Attributionsmodellen können wir diese besser nutzen. Attributionsmodelle sind vielleicht kein perfektes System zur Ordnung des digitalen Marketings, aber das beste System, das wir derzeit haben.


Dieser Beitrag zu Risiken von Attributionsmodellen schließt die Mini-Serie des Handels.blogs zu Attributionsmodellen ab. Zuvor standen die Gründe für die Nutzung von Attributionsmodellen („Warum brauchen wir Attributionsmodelle?“) und deren Funktionsweise („Wie funktionieren Attributionsmodelle?“) im Mittelpunkt.