Seit fast 15 Jahren steht ein Schlagwort im Raum, welches vor allem im Handel zu einem Umdenken geführt hat: der sogenannte „Long-Tail“-Ansatz. Darunter versteht man die Erweiterung eines Kernsortiments um weniger gut verkäufliche Artikel, ermöglicht durch die Aufhebung der Platzbegrenzung im Onlinehandel. Doch sehen wir heute, dass nicht jeder Onlinehändler ein Long-Tail-Sortiment wie Amazon anbietet, sondern zahlreiche Händler sich auf sehr spezifische Warengruppen konzentrieren. Was treibt also die Attraktivität des Long-Tails für Händler im heutigen Onlinehandel? Mehrere Treiber sind hier besonders relevant.
Die Grundlage: Was ist das Long-Tail?
Zwar steht der Begriff des Long-Tails in Diskussionen unter Händlern häufig im Raum, doch was beschreibt er eigentlich genau? Chris Anderson, der Vater des Konzeptes, definiert den Long-Tail als Wechsel „away from a focus on a relatively small number of „hits“ (mainstream products and markets) at the head of the demand curve and toward a huge number of niches in the tail,“ also eine Erweiterung des Sortiments um weniger populäre Artikel.
Anderson stellt in seinem Artikel von 2004 dabei vor allem auf die Beschränkungen der stationären Verkaufsinfrastruktur ab: Ladengeschäft haben eine bestimmte Verkaufsfläche, in der nicht ohne Weiteres eine größere Anzahl verschiedener Produkte als vorgesehen verkauft werden kann. Eine Erweiterung des Sortiments bedarf daher z.B. der Anmietung zusätzlicher Ladenfläche. Im Grunde geht es also um hohe zusätzliche Kosten für das Angebot eines weiteren, die bestehende Verkaufsfläche möglicherweise überschreitenden, Artikels. Man spricht hier auch von marginalen Kosten der Sortimentserweiterung.
Durch diesen Zwang zur Beschränkung des Angebots kommt es zu einer Konzentration vieler stationärer Händler auf populäre Produkte, da diese die größten Umsätze pro Verkaufsfläche versprechen. Im Englischen spricht man hier von „Hit Items,“ unter Praktikern fällt häufig der Begriff „Schnelldreher“ – im Wesentlichen stellt Anderson eine Fokussierung des stationären Handels auf umsatzstarke Produkte fest, das sogenannte „Short-Tail“.
Fallen nun, wie im E-Commerce, die physischen Beschränkungen der Ladeinfrastruktur, sinken die marginalen Kosten der Sortimentserweiterung. Zwar ist eine Erweiterung des Angebots nicht kostenfrei (z.B. fallen auch hier zusätzliche Lagerhaltungskosten an), aber vermutlich deutlich günstiger als beispielsweise bei der Anmietung zusätzlicher Verkaufsfläche in einer 1A-Lage. Dadurch könnte es sich für Händler lohnen, auch nicht populäre Artikel ins Sortiment aufzunehmen, um mit diesen zusätzliche Umsätze zu erzielen. Abb. 1 zeigt diese möglichen Long-Tail-Umsätze: obwohl in diesem hypothetischen Beispiel 10% der Artikel 70% des Umsatzes erzielen, gehen durch das Nichtangebot von weniger populären Produkten 30% der Umsätze verloren.
Durch die Verringerung der marginalen Kosten der Sortimentserweiterung im Onlinehandel verschiebt sich der Punkt, an dem es sich nicht mehr lohnt, zusätzliche Produkte ins Sortiment aufzunehmen, wie in Abb. 2 dargestellt. Die Frage ist, wie weit? Mehrere Faktoren spielen hier eine Rolle.
Treiber der marginalen Profitabilität der Sortimentserweiterung
Zwar sind die marginalen Kosten der Sortimentserweiterung im Onlinehandel geringer, aber auch dort fallen durch eine Vergrößerung des Sortiments zusätzliche Kosten an—etwa für die Erweiterung eines Zentrallagers oder den Aufbau eines weiteren Lagers. Gleichzeitig lassen sich durch immer weniger populäre Artikel auch immer geringere Umsätze erzielen, da ein unbekannter oder sehr spezieller Artikel vermutlich seltener gekauft wird. Hier lassen sich verschiedene Kosten- und Umsatztreiber zusammenfassen:
- Marginale Kosten der Sortimentserweiterung:
- Lagerhaltungskosten (v.a. bei großen Produkten)
- Abschreibungskosten (z.B. bei Modeartikeln, die schnell nicht mehr aktuell sind)
- Logistikkosten (d.h. weniger populäre Waren müssen weiter transportiert werden)
- Komplexitätskosten (z.B. im Einkauf)
- Nichtskalierungskosten (d.h. Einkauf kleiner Mengen und Bestehen von Mindestabnahmemengen)
- Liquiditätskosten (d.h. Kapitalbindung)
- Umsatzeffekte:
- Sinkende marginale Umsätze mit niedrigerem Verkaufsrang
- Veränderte Qualitätswahrnehmung (z.B. beim Angebot von zahlreichen Qualitätsstufen)
Wie wirken sich diese Faktoren aber auf die Attraktivität des Long-Tail-Angebots in verschiedenen Produktkategorien aus?
Produktkategorien als Treiber der marginalen Kosten
An den Beispielen, die Andersons in seinem Artikel für ein geglücktes Long-Tail-Angebot nennt, werden die produktspezifischen Treiber der marginalen Kosten deutlich. Es handelt sich um die Pioniere des Medienvertriebs im Internet: Amazon und Netflix (welches vor 15 Jahren seine Filme und Serien noch als DVD verschickte). Ein Long-Tail-Ansatz ist bei diesen Kategorien besonders geeignet, da sie sich durch kompakte und haltbare Produkte und eine bestehende Long-Tail-Nachfrage (etwa nach einem bestimmten Interpreten oder Film) auszeichnen.
Auf Basis der Profitabilitätstreiber lassen sich aber noch weitere Produktkategorien identifizieren, bei denen ein Long-Tail-Ansatz entweder leichter oder schwerer fällt. Ein wichtiger Einflussfaktor sind hier die durch die Produktgröße bestimmten Lagerkosten: lassen sich Kleidung oder Schuhe relativ kompakt verstauen, benötigen beispielsweise Möbel deutlich mehr Lagerplatz. Obwohl die Lagerkosten im Onlinehandel durch zentrale Lagerung geringer sein dürften als im stationären Handel, fallen dennoch Kosten an. Daher dürfte das Long-Tail interessanter für kompakte und weniger attraktiv für große Produkte sein.
Ein weiterer relevanter Faktor ist die Halbwertszeit der Produkte. Besonders im Modebereich ändern sich Jahreszeiten aber auch Trends, was gelagerte Produkte regelmäßig entwertet und einen Verkauf mit deutlicher Abschreibung nötig macht. Gleiches gilt für die Haltbarkeit von Lebensmitteln oder die technische Innovation von Elektroartikeln. Je weniger populär ein Produkt ist, desto weniger schnell dürfte es verkauft werden, was mögliche Abschreibungskosten bei sich schnell entwertenden Kategorien verursacht. Obwohl also für Mode kaum räumlichen Grenzen bestehen und nur geringe Lagerhaltungskosten entstehen, könnte der saisonale Verfall des Produktwertes Abschreibungskosten verursachen und ein Long-Tail weniger attraktiv machen.
Zugänglichkeit des Sortiments als weitere Einschränkung
Eine weitere Einschränkung des Long-Tail-Ansatzes könnte die Zugänglichkeit des Sortiments sein. Dies lässt sich am Beispiel eines Produktes verdeutlichen, für das viele Händler ein ausgeprägtes Long-Tail anbieten: Sneaker. Sucht man nach diesem Schuhtyp, geht die Anzahl der verfügbaren Modelle in die Tausende. Da die Produkte häufig nur nach wenigen und sehr allgemeinen Kriterien gefiltert werden können (z.B. Farbe oder Marke), fällt die Suche nach dem gewünschten Produkt schwer: Amazon bietet beispielsweise 2.737 (siehe Abb. 3) und Zalando 446 weiße Sneaker für Männer in Größe 42 an (Suche am 11.12.2017). Der Zugang zu einem bestimmten Long-Tail-Modell dürfte den meisten Konsumenten hier schwer fallen.
Obwohl also ein Long-Tail besteht, dürften Konsumenten schwerlich an dessen Ende gelangen – zumindest nicht sollte das Angebot nach Popularität geordnet sein. Außerdem scheint eine große Auswahl an Produkten für Konsumenten zwar prinzipiell attraktiv zu sein, wird aber im Auswahlprozess als unangenehm wahrgenommen und kann sogar zum Abbruch des Auswahlvorgangs führen. Man spricht hier auch von „Tyrannei der Auswahl“ (vgl. der Artikel von Berry Schwarz, hier zusammengefasst).
Andersons Beispiele aus dem Medienbereich hingegen zeigen Kategorien, die sehr zugänglich sind. Künstler oder Filmtitel lassen sich sehr genau spezifizieren und somit exakt suchen. Zwar dürften auch hier diejenigen Nutzer einen schweren Zugang haben, die nur mittels allgemeinen Informationen nach Musik oder einem Film suchen, die Anzahl dieser Nutzer dürfte aber geringer sein.
Räumliche Entgrenzung der Nachfrage
Neben diesen Einschränkungen des Long-Tails begünstigt ein Faktor die Verlängerung des Angebots: die räumliche Entgrenzung der Nachfrage. Waren Konsumierende im analogen Handel auf das Angebot vor Ort angewiesen (z.B. von weißen Sneakern beim Schuhhändler ihres Vertrauens), so können Konsumentinnen und Konsumenten heute überregional einkaufen. Onlinehandel hebt also nicht nur die Beschränkungen des Raumangebots auf, sondern auch die der Nachfrage. Daher werden auch weniger populäre Produkte häufiger nachgefragt, was das Angebot eines Long-Tails attraktiver machen dürfte.
Diese Nachfrageerweiterung begünstigt vor allem global agierende Handelsunternehmen, da weniger häufig nachgefragte Produkte nicht nur in einer Stadt oder einem Land angeboten werden, sondern auch über Grenzen hinweg. Einhergehend mit einer durch globalen Informationsaustausch begünstigten Angleichung der Geschmäcker, dürfte die Entgrenzung der Nachfrage das Angebot zusätzlicher Long-Tail-Produkte interessant machen.
Die Nische als Alternative zum Long Tail
Produktspezifische Treiber marginaler Kosten der Angebotserweiterung, mögliche Probleme mit der Zugänglichkeit zu weniger populären Produkten und die räumliche Entgrenzung der Nachfrage können also die Angebotsgrenze verschieben, wie in Abb. 2 dargestellt. Die bisherige Argumentation geht aber davon aus, dass das Sortiment nur von den „Hit Items“ ausgehend um immer weniger populäre Artikel erweitert wird. Doch kann Onlinehandel nicht auch eine Fokussierung auf bestimmte Bereiche des Long-Tails ermöglichen?
Durch eine entgrenzte Nachfrage nach spezifischen Produkten erscheint es möglich, dass sich Händler auf eben diese Produkte spezialisieren. Dies dürfte durch die oben beschriebene Schwierigkeit der Zugänglichkeit zum Produkt noch verstärkt werden. Am Beispiel von Sneakern könnten Händler also dahingehend die Auswahl vereinfachen, dass sie nur ein bestimmtes Qualitätsniveau oder Herkunftsland („handgemachte italienische…“) anbieten, wohingegen Long-Tail-Händler alle Produkttypen abdecken.
Zwar gab es auch im stationären Handel immer schon stark spezialisierte Händler, diese waren aber auf ein möglichst großes Einzugsgebiet angewiesen. Deshalb finden sich nur in Metropolen Händler georgischen Weins, japanischer Actionfiguren oder französischen Kochzubehörs. Durch die entgrenzte Nachfrage ist diese Beschränkung nicht mehr nötig, sondern alle Händler könnten sich auf eine Nische mit einem sehr engen Sortiment spezialisieren. Abb. 4 zeigt ein solches Beispiel: Der Onlineshop JapaneseChefsKnife.com konzentriert sich auf das weltweite Angebot von japanischen Küchenmessern—eine Nische, mit der selbst in sehr großen Städten das Überleben schwierig sein dürfte.
Credo: mehr Auswahl, aber nicht überall
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass viele Faktoren im Onlinehandel die Erweiterung des Angebots durch eine Absenkung der marginalen Kosten der Sortimentserweiterung begünstigen. Gleichzeitig sind der Erweiterung Grenzen gesetzt, etwa durch den Platzbedarf weniger gut verkäuflicher Artikel, der auch in Lagerhäusern zum tragen kommt, oder durch die schnelle Entwertung von Nischenprodukten, etwa durch Saisonalität bei Mode. Beim Long-Tail muss es aber nicht nur um eine Verschiebung der Angebotsgrenze gehen. Durch eine Entgrenzung der Nachfrage können Onlinehändler ganz auf das Angebot von „Hit Items“ verzichten und sich nur noch auf Nischenprodukte konzentrieren, da regionen- oder länderübergreifend mehr potentielle Käufer für selten gekaufte Produkte zur Verfügung stehen. Die Diskussion um das Long-Tail bestimmt Gespräche unter Händlern also zu Recht—allerdings muss eine Erweiterung der Auswahl nicht die einzige Antwort sein.