Der Handel beschwert sich über die neueste Beschränkung der zugelassenen Personen ab 800m2 Ladenfläche. Es drohten lange Warteschlangen vor Geschäften im Weihnachtsgeschäft. Wie stark reduziert die zusätzliche Beschränkung aber die Kapazität der Läden für Verbraucher? Und müssen wir lange Schlangen im Weihnachtsgeschäft fürchten? Eine erste Schätzung.
Die vorliegende Analyse soll ein Beitrag zur Versachlichung der Diskussion um mögliche Warteschlangen sein. Dabei treffe ich explizit keine Einschätzung der Maßnahmen, sondern nehme diese als gegeben hin. Die Analyse basiert auf realen Daten und eigenen Berechnungen. Sie soll eine Näherung darstellen und keine genaue Berechung. Mehr und bessere Daten lassen sich immer finden – aber dann ist das Weihnachtsgeschäft vorbei. Die Art der Analyse bedingt auch eine Verallgemeinerung – einzelne Händler sind sicher sehr unterschiedlich betroffen. Die Corona-Krise trifft den Handel und einzelne Händler stark, das ist mir bewusst.
Wie stark reduziert sich die Kapazität der Läden?
Die bisherigen und neuen Regeln im Überblick (basierend auf: Handelsverband):
- Vor November galt im Handel nur eine allgemeine Abstandsregel von 1.5m in alle Richtungen. Das entspricht rechnerisch einer Fläche von ca. 7m2 pro Person – unter der Annahme von absoluter Gleichverteilung der Besucher eines Ladens. Diese Regelung wurde aber nicht als Kapazitätsgrenze (d.h. Ladengröße geteilt durch 7m2) durchgesetzt, sondern nur als Gebot zur Einführung von Maßnahmen zur Wahrung des Mindestabstandes.
- Ab November galt eine allgemeine Einschränkung von 10m2 pro Person.
- Die ab Dezember geltenden Einschränkungen legen fest, dass bis zum 800. m2 Ladenfläche eine Person pro 10m2 in den Laden darf. Danach eine Person pro 20m2. Das weicht von ursprünglichen Plänen ab, die maximale Personanzahl allgemein auf eine Person pro 20m2 zu begrenzen. Eine derartige, allgemeine 20m2-Regel war in einigen Bundesländern (z.B. in Sachsen) bei der Wiederöffnung der Läden im Mai kurzfristig in Kraft (z.B. in Sachsen).
Kapazität eines Ladens im Vergleich zum November verringert
Abb. 1 zeigt, wie sich die Kapazität eines Ladens im Vergleich zum November verringert. Da die uneingeschränkte Kapazität eines Ladens schwer zu schätzen ist und stark von den jeweiligen Gegebenheiten abhängt, beziehen sich alle Aussagen auf den November 2020 (=100%). Man sieht, dass die Kapazität bis 800m2 gleich bleibt und sich dann stetig Richtung 50% entwickelt. Die 50%-Grenze entspricht der ursprünglich diskutierten Maximalauslastung von 20m2 pro Person. Man sieht auch, dass bereits die November-Einschränkung unter dem rechnerischen Niveau der 1,5m-Abstands-Regel liegt (ca. 140% vom November 2020).
Das heißt, dass kleinere Läden keine oder nur eine unwesentlich geringere Kapazität haben, als im November. Das trifft etwa auf normale Supermärkte oder Discounter im Lebensmitteleinzelhandel, und die große Mehrheit der inhabergeführten Geschäfte im Nicht-Lebensmittelhandel zu. Je größer der Laden ist, desto stärker die Einschränkungen relativ zum November.
Was bedeutet das für Supermärkte?
Abb. 2 verdeutlicht dies am Beispiel des Lebensmitteleinzelhandels, der ja besonders vor den Feiertagen stark frequentiert werden dürfte. Während ein normaler Supermarkt mit 1.000m2 noch 90% der Novemberkapazität hat, sinkt die Kapazität bei großen Supermärkten (z.B. einem Edeka-Center mit 3.500m2) auf 61%, bei SB-Warenhäusern (z.B. einem Kaufland, oder den real-Märkten mit 5.000m2) auf 58%. Danach ist der Abfall gering. Legt man die Verteilung der Lädengrößen zugrunde (eigene Berechnung auf Basis von Daten des EHI Retail Instituts), ergibt sich eine Kapazitätsreduktion auf 88% gegenüber November 2020.
Was bedeutet das für den Handel allgemein?
Anhand Abb. 3 kann man auch die Kapazitätsveränderungen für den Handel allgemein beurteilen. Die Verteilung basiert zwar auf den Neuvermietungen (d.h. nicht dem Bestand) für 2020 (und nicht auf dem Bestand, Quelle: JLL), diese Werte ähneln aber trotz Corona den vergangenen Jahren. Auch hier sieht man, dass die Kapazität im Vergleich zum November eigentlich nur bei großen Händlern deutlich reduziert wird. Man erkennt, dass sehr große Flächen, die am stärksten durch die Kapazitätsgrenzen getroffen sind, allgemein eher selten sind. Da es durchschnittlich wenig sehr große Flächen gibt, sinkt die Gesamtkapazität nur auf 94% des Novemberniveaus. Bei dieser geringen durchschnittlichen Absenkung ist es unwahrscheinlich, dass wir verbreitet Warteschlangen sehen werden.
Als Einschränkung ist hier zu nennen, dass Innenstädte tendenziell mehr Läden mit größeren Flächen haben, da sich hier vor allem Filialisten ansiedeln. Das bedeutet, dass die Senkung der Flächenkapazität hier vermutlich stärker ausfällt, als im Landesdurchschnitt.
Gibt es überhaupt Nachfrage nach einem Ladenbesuch?
Um einzuschätzen, ob die gesunkene Kapazität ein Problem sein wird und so Warteschlangen entstehen, muss man die Nachfrage nach Ladenbesuchen bestimmen. Dazu habe ich Frequenzdaten von Hystreet aus den fünf meistfrequentierten Einkaufsstraßen ausgewertet (siehe Abb. 4). Dies spiegelt sicher nicht jeden Standort wider, gerade im Lebensmitteleinzelhandel, soll hier aber als Näherung dienen.
Betrachtet man die Entwicklung 2019 als Prognosebasis, sieht man, dass der Dezember 2019 bei 133% vom November 2019 lag, an Spitzentagen sogar bei 234%. Die dargestellten Werte sind die Mittelwerte über die fünf Straßen, in Klammern ist der Schwankungsbereich angegeben. Der November 2020 lag im Mittel bei 55% des Novembers 2019 (Oktober 2020: 65%, nicht dargestellt). Wendet man auf diese Basis die Multiplikatoren aus 2019 an, das auch Spitzentage im Dezember 2020 eher dem „Durchschnittstag“ im Dezember 2019 entsprechen werden (129% vs. 133% vs. November 2019).
Auch im Dezember weniger Menschen in der Innenstadt
Das bedeutete, dass wir auch im Dezember deutlich weniger Menschen in den Innenstädten erwarten können. Dabei werden Spitzentage im Dezember 2020 vermutlich dem Durchschnittstag 2019 entsprechen. Innerhalb solcher Spitzentage kann es aber natürlich erneut Stoßzeiten geben — die Gefahr von Menschenmengen und Warteschlangen ist im Dezember also nicht gebannt, aber deutlich geringer als im letzten Jahr.
Zwei Einschränkungen sind wichtig zu nennen: Erstens, diese Berechnung stellt eine Durchschnittsbetrachtung dar, die durch Einzelaktionen (z.B. Black-Friday) oder für bestimmte hochfrequentierte Händler (z.B. Primark) natürlich anders aussehen kann. Zweitens, Besucher der Innenstadt sind nicht gleich Besucher der Läden. Daher könnte meine frequenzbasierte Schätzung den Besucherandrang in den Laden unterschätzen, da Menschen zielgerichteter einkaufen (d.h. weniger Frequenz pro Ladenbesuch erzeugen). Die Innenstadt erfüllt auch eine Unterhaltungsfunktion – ohne Restaurants, Weihnachtsmarkt etc. fällt diese Funktion, und die damit verbundene Frequenz fast komplett weg. Außerdem könnten Menschen aus Angst vor Infektionen zielgerichteter ihre Besorgungen erledigen und weniger schlendern.
Zusammenfassung: Durchschnittlich leicht verringerte Kapazität bei stark verringerter Nachfrage
Zusammenfassend zeigt diese Analyse eine durchschnittlich leicht verringerte Kapazität bei stark verringerter Nachfrage, selbst an Spitzentagen. Im Lebensmitteleinzelhandel sinkt die geschätzte Kapazität auf 88% des Novemberniveaus, im Handel allgemein auf 94%. Diese verringerte Kapazität trifft aber auf eine stark verringerte Nachfrage. Legt man die Besuchsfrequenz in Innenstädten zugrunde, liegt der November 2020 bei 55% des Vorjahresniveaus. Legt man für Dezember eine ähnliche Entwicklung wie 2019 an, läge der Dezember bei 73% des Novembers 2019, an Spitzentagen bei 129% (vgl. Dezember 2019: 234%).
Credo: Keine Anzeichen für eine zusätzliche Warteschlangen
Im Durchschnitt sehe ich daher keine Anzeichen für eine zusätzliche Warteschlangen (d.h. die über den November hinausgeht) vor Weihnachten. Dies mit der Einschränkung, dass es sich um eine Schätzung im Durchschnitt handelt und die tatsächliche Nachfrage nach Ladenbesuchen (d.h. nicht nur nach Besuchen der Innenstadt) schwer zu schätzen ist. Auch schwanken im Handel die Besuchsfrequenzen schon im Tagesverlauf sehr stark. Sicher kann es daher in Stoßzeiten zur Bildung von Warteschlangen an besonders populären Geschäften kommen – vermutlich besonders großen, die einen starken Kapazitätsrückgang haben. Ich sehe aber keine Anzeichen, dass wir uns auf ein allgemeines Schlangestehen einstellen müssen.
Auch zum Thema auf dem Handels.blog:
Maskenpflicht im Einzelhandel – Ein Ländervergleich
Informationen zur Berechnung und Daten:
Abb. 2:
- Flächenanteil: Anzahl der Läden nach bestimmten Flächen (Quelle: EHI Retail Institute) × angenommene Größe (z.B. 500m2 bei kleinen Supermärkten) geteilt durch die berechnete Gesamtfläche über alle Formate.
- Restkapazität: siehe Abb. 1. Annahme einer festen Größe (z.B. 3.500m2 bei großen Supermärkten).
- Kapazitätseffekt: Veränderung der Kapazität November gegenüber Dezember 2020
Abb. 3:
- Flächenanteil: direkt abgelegesen aus dem Anteil der neu vermieteten Flächen 2020 (Quelle: JLL).
- Restkapazität: siehe Abb. 1
- Kapazitätseffekt: Veränderung der Kapazität November gegenüber Dezember 2020
Abb. 4
- Quelle: Hystreet
- Messorte: 5 meistbesuchte Straßen Deutschlands (Datengrundlage: 5 meistbesuchte Einkaufsstraßen nach Hystreet.com (Georgstraße, Hannover; Neuhauser Straße, München; Zeil (Mitte), Frankfurt a.M.; Kaufingerstraße, München; Schildergasse (Mitte), Köln)
- Index: November 2019 entspricht 100
- Berechnung der durchschnittlichen täglichen Besucherfrequenz. Im Dezember nur vom 01.-22. Dezember, da danach die Frequenz stark abfällt. Tag mit höchster Frequenz als Höchstwert der Verkaufstage Dezember 2019 vs. Durchschnitt November 2019.
- Prognose 2020: Anwendung der Entwicklung aus dem Dezember 2019 auf den Dezember 2020 (z.B. 1.33 bei