Führt Online­handel zu einer Erhöhung des Energie­verbrauchs?

Nicht erst seit der hohen Schadstoffbelastung in deutschen Innenstädten ist klar, dass unser verändertes Konsumverhalten die Umwelt und den Menschen belastet. Ein Treiber, der in diesem Kontext häufig genannt wird, ist der Onlinehandel. Die öffentliche Debatte vermutet hier besonders eine Mehrbelastung durch zusätzliche Lieferfahrten. Die Statistiken scheinen dem Recht zu geben: in Deutschland zum Beispiel immer mehr Pakete verschickt und geliefert, wie etwa eine Prognose der Post zeigt. Doch trägt der Onlinehandel tatsächlich zu einer Erhöhung des gesamten Energieverbrauches eines Landes bei?

E-Commerce und Energieverbrauch: die intuitive Vermutung

Die intuitive Vermutung, dass der Onlinehandel durch zusätzlichen Lieferverkehr negative Folgen für unsere Umwelt hat, stimmt möglicherweise so aber nicht. Zwar werden durch den Onlinehandel mehr Lieferfahrten getätigt, private Beschaffungsfahrten entfallen dafür aber. Dadurch könnten die insgesamt (d.h. durch Private und Logistikunternehmen) gefahrenen Kilometer und der damit verbundene Energieverbrauch sinken. Denn die Effekte des Onlinehandels beschränken sich nicht auf dessen direkten Konsequenzen (z.B. Verpackung, Lieferung, Retoure), sondern haben Auswirkungen zweiter (z.B. weniger Fahrten zum Kaufhaus) und dritter Ordnung (z.B. mehr Freizeit, die z.B. mit Tätigkeiten verbracht wird, die wiederum Energie verbrauchen – wie z.B. Fernsehen oder mehr Onlineshopping). Eine durch Florian Dost (Lancester University) und den Autoren durchgeführte Untersuchung versucht, durch die Betrachtung einer gesamten Volkswirtschaft den Gesamteffekt des Onlinehandles auf den Energieverbrauch eines Landes zu beziffern. Trägt der Onlinehandel tatsächlich zu einer Erhöhung des gesamten Energieverbrauches eines Landes bei? Dafür haben wir Daten aus den Vereinigten Staaten über die die gesamte Wachstumsphase des Onlinehandels (1992-2015) analysiert. Im Gegensatz zu vorherigen Untersuchungen gingen dabei alle Sektoren der Volkswirtschaft (private Haushalte, kommerzieller, industrieller und logistischer Energieverbrauch) in die Analyse ein. Um die Kausalzusammenhänge im komplexen System unserer Realität zu erfassen, haben wir uns einer Methode aus der Biologie bedient (Convergent Cross Mapping, hier zuerst erörtert in Science).

Mehr Energieverbrauch durch Onlinehandel – aber anders als man denkt

Die Ergebnisse unserer Untersuchung zeigen: Onlinehandel führt zu mehr Energieverbrauch (um ca. 0.56% pro Prozentpunkt Wachstum des Onlinehandels), aber nicht so, wie man es vermutet. Die Mehrbelastung der Umwelt entsteht nicht durch zusätzliche Logistik, sondern durch den stärkeren privaten (59% des Effekts, Abb. 1c) und kommerziellen Energiekonsum (34% des Effekts, Abb. 1a). Zwar können wir einzelne Verhaltensweisen nicht im Detail nachvollziehen, da die Analyse auf gesamtwirtschaftlichen Daten beruht, folgende Vermutungen könnten den zusätzlichen Energiebedarf in diesen zwei Bereichen aber erklären.
E-Commerce und Energieverbrauch
Abb. 1: Marginale Effekte einer Veränderung des E-Commerce-Anteils auf den Energieverbrauch der vier Sektoren der Wirtschaft der USA. Die Y-Achse stellt den Anstieg im Energieverbrauch pro Prozentpunk zusätzlicher Onlinehandel dar (in BTU – British Thermal Units). Graue horizontale Linien stellen den durchschnittlichen marginalen Effekt dar. Gestrichelte Linien sind die Ergebnisse einer Regression des E-Commerce-Anteils auf den Energieverbrauch.
Erstens, da Konsumenten durch den Wegfall von Beschaffungsfahrten mehr Freizeit haben, verbringen sie diese—zumindest zum Teil—zuhause. Daher kommt es zu einer Verschiebung des Energieverbrauchs vom öffentlichen in den privaten Raum, da zahlreiche Aktivitäten, die in der zusätzlichen Freizeit unternommen werden, wiederum Energie verbrauchen (z.B. Fernsehen oder mehr Onlineshopping). Zweitens, könnte der kommerzielle Energiekonsum (z.B. durch Handelsimmobilien) als Reaktion auf den Onlinehandel zunehmen, da Händler versuchen, die wahrgenommenen Wettbewerbsvorteile des Onlinehandels (z.B. Preis, ständige Verfügbarkeit – siehe auch der vorherige Beitrag) durch aufwendigere Ladengestaltung auszugleichen. Schlittschuhbahnen und Erlebnisparks in Shopping-Centern sind zwar hierzulande noch nicht verbreitet, zeigen aber die Richtung auf. Kurz, die Steigerung des Erlebniswert des Einkaufs braucht mehr Energie. Außerdem nimmt der Bestand an Handelsimmobilien, entgegen anfänglicher Vermutungen, nicht in dem Maße ab, wie der Onlinehandel zunimmt. So wuchs in den USA der Bestand an Handelsflächen von 1995 bis 2012 jährlich um 1.2%, wenn sich der Trend in der letzten Dekade auch deutlich verlangsamte (+0.1%, U.S. EIA 1995, 2003, 2012). Das Fortbestehen von Parallelinfrastrukturen im On- und Offlinehandel könnten zusätzlichen Energiekonsum verursachen.

Weniger Energieverbrauch für Logistik und Industrie

Im Logistiksektor (Abb. 1d) und der Industrie (Abb. 1b) wird entgegen der Erwartungen leicht weniger Energie verbraucht. Vor allem der geringere Energieverbrauch in der Logistik überrascht. Gleichzeitig sieht man hier, dass die intuitive Vermutung des zusätzlichen Energieverbrauchs zumindest zeitweise zutraf. Bei niedrigem Niveau des Onlinehandels (<3,5%) wurde, wie in Abb. 1d zu sehen, mehr Energie verbraucht. Je höher der Anteil des Onlinehandels, desto positiver fällt die logistische Energiebilanz aber aus. Die Vermutung liegt nahe, dass durch ein höheres Niveau von Onlinebestellungen sich auch die Auslastung der Logistik verbessert (z.B. mehrere Lieferungen pro Haus). Gleichzeitig zahlt sich hier die Verringerung der privaten Logistik durch ausbleibende Beschaffungsfahrten aus. Insgesamt bleibt aber ein beachtlicher negativer Beitrag des Onlinehandels: Stiege der Anteil des Onlinehandels in den USA von 9 Prozent um 10 Prozentpunkte auf knapp 20 Prozent, würde sich der Energieverbrauch des gesamten Landes um mehr als 5 Prozent erhöhen. Diese Prognose bedarf jedoch der Einordnung: die negativen Konsequenzen des Onlinehandels haben sich über den Beobachtungszeitraum kontinuierlich verringert. So liegt der prognostizierte Mehrverbrauch im Jahr 2015 um 6% unter dem Durchschnitt des Gesamtzeitraums. Diese Verringerung der negativen Auswirkungen des Onlinehandels wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit fortsetzen, da zum Beispiel Parallelstrukturen im Handel abgebaut werden.

Was bedeutet das für Deutschland?

Fraglich bleibt, ob sich die Ergebnisse aus den USA auch auf Deutschland übertragen lassen. Dies liegt nahe, lässt sich nicht abschließend beantworten. Beide Länder haben ein ähnliches volkswirtschaftliches Entwicklungsniveau, einen vergleichbaren Anteil an Onlinehandel und teilen zahlreiche Konsumgewohnheiten. Für ein Verstärkung des negativen Effekts spricht, dass die positiven Logistikeffekte in den USA vermutlich stärker ausfallen, als in Deutschland, da hierzulande der Individualverkehr weniger stark ausgeprägt ist und auch die Bevölkerungsdichte höher liegt. Eine Abschwächung des Effekts könnte durch den niedrigeren Energieverbrauchsniveau der privaten Haushalte in Deutschland entstehen, wobei dieser Sektor besonders stark zum Mehrverbrauch durch E-Commerce beiträgt. Insgesamt legen die Forschungsergebnisse nahe, dass hoher Energieverbrauch und Verkehrschaos in den Innenstädten weniger direkt durch den Onlinehandel und die damit verbundene Logistik verursacht werden, sondern vielmehr durch Konsumenten, die ihre neu gewonnen Freizeit wiederum im Auto oder mit energieaufwändigen Aktivitäten zuhause verbringen. Gleichzeitig könnte auch eine Gegenreaktion des stationären Handels zur Steigerung des Energieverbrauchs beitragen. Maßnahmen zur Senkung des privaten Energieverbrauches rücken daher in den Fokus, wobei neben den üblichen Förderprogrammen für energieeffizientere Haushaltsgeräte, Anreize zur Umstellung des Freizeitverhaltens denkbar wären, die wiederum aber in die Freiheitsrechte der Bürger eingriffen. Auch einen Abbau der nicht mehr genutzten Infrastruktur des stationären Handels dürfte einen Interessenkonflikt zwischen den Wünschen zur Energieeinsparung einerseits und den Zielen Erhalt von Arbeitsplätzen und attraktiven Innenstädten andererseits auslösen.
Dieser Beitrag basiert auf einer Forschungsarbeit von Florian Dost (Lancester University) und Erik Maier (HHL Leipzig Graduate School of Management) die unter dem Titel „E-Commerce Effects on Energy Consumption“ in der Fachzeitschrift Journal of Industrial Ecology veröffentlicht wurde. Der Artikel ist hier frei verfügbar. Eine praxisnahe Besprechung der Ergebnisse des Artikels findet sich in der Zeitung Die Welt (04.09.2017, S. 9), hier auch online verfügbar. Dieser Artikel ist Teil einer Serie von Diskussionsbeitragen zu gesellschaftlichen Konsequenzen der Digitalisierung, mit besonderem Bezug zum digitalen Handel. Die Beitrage sollen zur Diskussion anregen und stellen teils Ergebnisse der eigenen Forschung dar. Weitere Beiträge befassen sich mit der Rolle des Menschen im digitalen Handel oder der Bedeutung von Kundendaten. Mehr Forschungsbeiträge auf dem Handels.blog: